Sonntag, 16. Juni 2013

Das Interesse an der letzten Wasserstandsmeldung

Die Nachrichten gehen Land unter

Mit Katastrophen ist das so eine Sache. Wenn sie geschehen, stehen sie natürlich im medialen Fokus und überdecken die Themenvielfalt im tagesaktuellen Journalismus. Ob das Erdbeben in Haiti oder die sogenannte Atomkatastrophe in Fukushima: Plötzlich verdoppeln und verdreifachen sich Fernsehbildschirme, blinkende Warnhinweise werden eingeblendet, Sonderinformationen über den Stand der Dinge und die aktuellsten Zahlen laufen am unteren Bildrand durch. Die Brisanz ist in gewisser Weise gerechtfertigt, räumt sie der Katastrophe doch einen höheren Stellenwert ein als eine gewöhnliche Meldung des Ereignisses.

Schwierig wird das meines Erachtens jedoch, wenn die Katastrophe soviel Raum einnimmt, dass man völlig den Fokus auf das Weltgeschehen verliert. So geschehen bei der Flutkatastrophe der vergangenen  zwei Wochen. Ja, man muss melden, wenn es regnet. Und ja, man muss melden, wenn ganze Landstriche untergehen. Schon allein, um die Bevölkerung zu mobilisieren, den Betroffenen zu helfen. Doch die klassischen Medien sind doch auch dazu da, die Rezipienten zu informieren. Trotzdem es irgendwann keine großartigen Neuigkeiten mehr über die Überschwemmungen gab, außer die Meldungen der Wasserpegel, sind die Headlines noch immer vom Wasser bestimmt. Zynisch könnte man sagen: "Langsam interessiert es mich wie die letzte Wasserstandsmeldung".


Trendsuche bei Google nach dem Begriff "Hochwasser": Zahlen stellen Suchinteresse relativ zum Chartwert dar. Angaben spiegeln nicht absolutes Suchvolumen wider

Besonders das Interesse der lokalen Hörfunk- und Fernsehanstalten war enorm. Sonderberichterstatter berichteten live vor Ort und plötzlich präsentierte jeder kleine Privatsender einen "Korrespondenten"-Stamm.

Natürlich ist für den Lokaljournalismus das Hochwasser auch eine große Chance. Man ist nah an den Menschen und endlich passiert mal was. Man muss keine weltumspannenden Themen herunterbrechen sondern die Welt ist vor Ort. Doch dafür, dass rund um die Uhr berichtet wurde, hat man doch wenig erfahren, was wirklich wichtig gewesen wäre.

Punkt eins meiner Kritik also: Zu wenig wurde das Potential ausgeschöpft, dass das Thema für Journalisten geboten hätte.

Punkt zwei - und das ist eigentlich das Wesentliche: Alles andere ist hinten runter gefallen, oder sprichwörtlich untergegangen.

Hier nur ein paar unsortierte Beispiele, denen in der Hochphase der Flutberichterstattung einfach kaum Raum gegeben wurde:

  • Waldbrände zerstören tausende Hektar Land in Colorado, USA (man schätzt, dass es sich um den schlimmsten Brand des Staates handelt)
  • Griechenlands öffentlich-rechtlicher Sender wird geschlossen
  • Schweinegrippe breitet sich in Lateinamerika aus
  • Obama besucht am Dienstag Berlin. Die großen Medien berichten vor dem 13. Juni kaum davon:



Es ist nicht der Altruismus, der zu der einseitigen Berichterstattung führt, sondern, man glaubt es kaum, die Quote. Traurig aber wahr, dass die letzten Wochen paradiesisch für die deutschen Medien wahren. Hier einige Meldungen:

Montag, 3. Juni 2013

„Habt ihr schon gehört? Darüber müssen auch wir berichten!“

"Pferdefleisch-Skandal" und "Sexismus-Debatte" - Eine Suche nach der Entstehung von Hypes und verloren gegangenen Debatten.  

Eine Debatte sorgte zu Beginn des Jahres für unerwartet viel Aufruhr in den Medien, ins Gespräch gebracht durch die Familienministerin Kristina Schröder von der CDU. Es ging um die Streichung des Wortes „Neger“ aus alten Kinderbüchern, die nach ihrer Meinung dringend notwendig wäre, um dem Zeitgeist der „Political Correctness“ zu entsprechen. Plötzlich überschlugen sich Tageszeitungen und Wochenmagazine, wurden gesonderte Dossiers geschrieben und einstündige Radiointerviews mit Experten geführt, ob der Vorschlag übertrieben wäre, ob man die literarische Form und den damaligen Zeitgeist zerstören würde, oder aber schon aus Respekt vor dunkelhäutigen Menschen stigmatisierende Wörter zensieren sollte, um die Kinder nicht vorzuprägen. Tage nach der ersten Verlautbarung Schröders hatte das Thema eine ungewöhnliche Eigendynamik entwickelt, die mit der medialen Wellenbewegung eine literarische Fußnote zu einem Skandal inszeniert wurde.1

Bald schon fand sich auch ein neues Fachwort für die Nachricht: „Neger-Debatte“. Unter dem Schlagwort konnte man unzählige Meldungen bei den Suchmaschinen finden und jeder wusste sofort, worum es geht. Und keine vier Wochen später war das Thema wieder vom Tisch. Wurden rassistische Wörter aus Kinderbüchern gestrichen? Die meisten werden darauf gar keine Antwort wissen oder sich gar dafür nicht mehr sonderlich interessiert haben. Heiß mitdiskutiert hat dennoch jeder, bis plötzlich neue, spannende Themen im Mittelpunkt standen.

Hinter der Inszenierung dieser Themenwelt steckt das sogenannte „Agenda-Setting“, bei dem etwas auf die Agenda – auf die Tagesordnung gesetzt wird. Wieso und warum? Manchmal geben nur kleine Ereignisse Ausschlag für eine komplette Welle in der Berichterstattung, manchmal handelt es sich auch um grundsätzliche Dinge, die die Gesellschaft beschäftigen und durch die hitzige Grundsatzdiskussion entfacht werden. Und dennoch: Oftmals bleibt schleierhaft, warum einige Themen plötzlich in allen Medien auftauchen, andere jedoch völlig untergehen. Liegen manche Themen einfach im Trend? Wer steht hinter der Verbreitung und wer ist Vorreiter für ein Thema, welches plötzlich zum Schlagwort einer gesellschaftlichen Debatte wird? Und schlussendlich: Was ändert sich überhaupt durch die Berichterstattung?

Ich jedenfalls musste lange nach einer Antwort auf die „Neger-Debatte“ suchen. Denn obwohl ich mich für einen aufmerksamen Leser der Tagespresse halte, ist mir die Berichterstattung eine Antwort schuldig geblieben. So wie bei vielen anderen Ereignissen, deren Aufzählung ins unendliche laufen könnte: Gibt es noch eine Choleraepidemie in Haiti? Gibt es neue Kontrollmöglichkeiten, um zukünftig Pferdefleisch im Döner zu verhindern? Werden „Offshore-Leaks“ bald verhindert, weil die Politik neue Sanktionen einführt? Man weiß es nicht...

Der folgende Blog möchte sich inhaltlich dem „Agenda-Setting“ annähern. Zum einen werde ich dazu ausgewählte Themen verfolgen, von ihrem Auftauchen bis zum „Untergang“ im medialen Gedächtnis. Zum anderen werde ich mich mit der Theorie, mit der Begrifflichkeit, ihren Ursachen und der Wirkung
des Agenda-Setting-Effekts beschäftigen.


Auf der Agenda 

Doch was ist es überhaupt, dieses ominöse „Agenda-Setting“, dieser Begriff der da einfach so dasteht in der Medienwissenschaft? Wörtlich übersetzt will es doch nur sagen, dass man sich ein Thema setzt, etwas auf die Tagesordnung bringt und darüber berichtet. Die wörtliche Übersetzung lässt offen, wer hier das Thema setzt und wer es erfahren möchte. Frei nach dem „Henne-Ei-Prinzip“ kann man schon provokant an den Beginn meiner folgenden Ausführungen die Frage werfen, ob die Medien dem Rezipienten das Interesse an einer Berichterstattung aufdrängen, oder ob es der Rezipient von sich aus einfordert. Messbar wäre Zweiteres durch die Quote, durch die Kommentare, die der Leser bzw. Hörer von sich gibt.

Zudem finde ich die Entwicklung eines Hypes spannend: Welche Nachrichtenagentur beginnt mit der Berichterstattung, nach welchen Maßstäben wird es dann von einzelnen Medien übernommen und warum schaffen es nur einige Themen zu „Trendsettern“, die oft schon verfehlt häufig diskutiert werden und tage- bis wochenlang zum Zeitgeschehen zählen?

Meine erste Vermutung ohne viel Vorwissen ist es, dass natürlich sowohl politische, als auch wirtschaftliche Akteure den größten Einfluss auf die Berichterstattung nehmen. Zudem wird die Priorität vor allem auf Themen gesetzt, die den größten Kreis an Rezipienten erreichen.

Die Medienwissenschaft beschäftigt das „Agenda-Setting“ seit den 1960er Jahren. Die Medienwirkungsforschung befand sich Ende der 60er Jahre in einer Sackgasse, da sich die Forschung nach der Wirkung der Massenmedien auf die Verhaltensweisen des Zuschauers erschöpft zu haben schien. Einen völlig neuen Ansatz brachten die Medienwissenschaftler Maxwell McCombs und Donald Shaw ein.2  Nach McCombs Theorie folgt das Publikumsinteresse dem Einfluss durch das Medieninteresse. Maurer beschreibt in seinem Buch mit dem schlichten Titel „Agenda-Setting“ das Beispiel der Arbeitslosigkeit: Sobald das Thema überdurchschnittlich oft die Nachrichten bestimmt, folgert der Rezipient in seinem Ranking der Probleme der Gesellschaft darauf, dass die Arbeitslosigkeit die größte Schwierigkeit darstellt.

Doch auch schon Jahre zuvor wurde der Grundgedanke von anderen Wissenschaftlern aufgenommen:

"The press may not be successful much of the time in telling people what to think, but it is stunningly successful in telling its readers what to think about." 4

Zudem folgt der Rezipient den Massenmedien, weil es einfach alle tun. Klingt recht simple, doch letztlich wird dieser Fakt immer wieder beschrieben. Natürlich möchte der Einzelne über Probleme des öffentlichen Diskurses mitreden. Das kann er nur, wenn er selbst über den öffentlichen Diskurs informiert ist. Da die Themen am häufigsten auftauchen, die die meisten Rezipienten erreichen, bleibt die Auswahl an öffentlich diskutierten Themen auch immer in einem recht einseitigen Interessenfeld.5

Ein letzter Punkt, der die Wirkung der Themenwahl auf den Rezipienten erklären soll, ist die begrenzte Aufmerksamkeitsspanne eines Jeden. Natürlich haben sich die Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung vervielfältigt und dem Mainstream kann man auch aus dem Weg gehen, indem man sich seine Informationen schneller und einfacher über das Internet zusammensucht. Dennoch ist und bleibt die Aufmerksamkeit begrenzt. Umso häufiger ein Begriff oder ein Diskurs an den Rezipienten gelangt, desto mehr nimmt er dieses Thema selbst auch als wichtig war. Die natürliche Selektion im Gehirn führt dazu, dass man nur die am häufigsten angesprochenen Themen wahrnimmt und verarbeitet. Eine Selektion findet auch nach persönlichen Gesichtspunkten statt. Ein Thema ist für mich von Relevanz, wenn ich selbst davon betroffen bin. Hart gesprochen: Drei Tote in Timbuktu interessieren mich nicht, also raus aus den Nachrichten. Jedoch über 300 Tote in Bangladesch, einerseits weil die Zahl der Opfer höher ist, andererseits aber auch, weil ich ja selbst Klamotten anziehe, die von den Opfern verarbeitet wurden, scheinen es wert, eine mediale Wellenbewegung und Diskussion anzustoßen. 

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Literaturhinweise:

2          vgl. Maurer, Marcus 2010. Agenda-Setting. Baden-Baden. S. 10

3          vgl. ebd. S. 11

4          Cohen, B. C. 1963. The press and foreign policy. Princeton University Press. Princeton

5          vgl. Maurer, S. 12